Date:13. Feb 2003

behindert

Meditation
 

Ganz unmittelbar und stürmisch
war die Begegnung mit einem behinderten jungen Mann.
Während eines Besuches bei Freunden
stand er plötzlich vor mir, um mich zu begrüßen.
Er schüttelte mir überschwänglich die Hand,
packte mich an meinem Mantel
und fiel mir um den Hals.
Dabei stieß er Laute der Freude aus,
die ich nicht verstehen, aber doch begreifen konnte.

Mein Gott,
welche unterschiedlichen Gefühle wurden
während der wenigen Augenblicke dieser Begegnung
in meinem Inneren geweckt.

Da stieg zuerst Mitleid in mir auf.
Mitleid mit diesem Menschen,
dem jeder schon ansehen kann,
dass er anders ist als die meisten.
Mitleid, weil er sich nicht so artikulieren kann,
dass jeder versteht, was er will.
Mitleid, dass er ein Leben lang
als einer behandelt wird,
den die meisten Menschen nicht für voll nehmen.

Dann stieg Überraschung in mir auf.
Überraschung, wie vorbehaltlos er auf mich zukam.
Er schaute mich an
ohne den Schatten eines Vorurteils und ohne Fremdheit.
Er setzte irgendwie voraus,
dass ich ihm wohl gut sein würde.
Indem er vor mir stand,
war er einfach intensiv da.

Dann stieg Befremden in mir auf, 
das sich jedoch gleich wieder auflöste.
Welcher völlig fremde Mensch 
umarmte mich je zuvor einfach so
und brachte durch Freudenlaute so unverblümt
seine positiven Gefühle darüber zum Ausdruck,
dass er mir begegnet.

Mein Gott,
in dieser Begegnung hast du mein Mitleid
in Staunen und Bewunderung verwandelt.
Was den gesunden, gesellschaftlich durchtrainierten Menschen
ausgetrieben wurde,
das hat dieser behinderte Mensch mir angeboten:
unmittelbare Begegnung,
unverdorbene Emotion,
offene Freude,
volles Vertrauen.

Ich weiß,
dass unsere Welt nicht nur eitel Freundschaft ist.
Doch schenke mir ein wenig
von der kindlichen Offenheit und Zuversicht zurück,
die ich zu einem großen Teil durch meine Erfahrungen
verloren habe.

HB